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Koscher Schnee (2)

Boronswetter. So nennen die Menschen landläufig diese Tage, an denen sich die Praiosscheibe mit dicken Regen- oder Schneeschleiern bedeckt, wie eine trauernde Witwe, sodass es scheint, als würde es bei Tage fortwährend dämmern. So ein Boronswetter heute. Noiona liebt ihren Gott mit aller Kraft, von ganzem Herzen und aus tiefster Seele und für verdeckte Sonnenstrahlen…

Boronswetter. So nennen die Menschen landläufig diese Tage, an denen sich die Praiosscheibe mit dicken Regen- oder Schneeschleiern bedeckt, wie eine trauernde Witwe, sodass es scheint, als würde es bei Tage fortwährend dämmern.
So ein Boronswetter heute.

Noiona liebt ihren Gott mit aller Kraft, von ganzem Herzen und aus tiefster Seele und für verdeckte Sonnenstrahlen hat sie immer ein Lob ihres Herrn auf ihren bleichen Lippen – aber… dieses Wetter, dieses Un-Wetter, das kann nicht einzig Borons Werk sein. Es ist Noionas erster Winter im Norden, von Schnee und Graupel hat sie bislang nur in Reiseberichten gelesen oder davon gehört. Mittlerweile fühlt sie sich, als würde ihr nie wieder warm werden, als wäre ihr die Kälte bis in die Knochen gekrochen und hätte sich ganz tief in ihr eingenistet. Die Füße werden immer schwerer, das Gefühl in den Zehen hat sich schon vor einem Stundenglas verabschiedet, genauso wie bei ihrer Nase. Trotzdem läuft sie, die Nase. Der Saum ihres Habits saugt sich voll mit geschmolzenem Schneematsch und scheint mit jedem Schritt schwerer zu werden. Ihren Wanderstock hält sie noch umklammert, sie fühlt ihn aber nur ganz dumpf in der Hand. Es tut weh, wenn sie die Finger bewegt – Handschuhe hat sie keine.
Nur die Landschaft wird immer schöner. Sie wird, je mehr Schnee darauf fällt, ordentlicher, sauber, rein. Wenn der Weg es zulässt, hebt die Ordensschwester den Kopf um sich umzusehen und die Bäume zu betrachten, auf deren Ästen sich das helle Weiß sammelt.
Und sie lässt die jüngsten Ereignisse Revue passieren.

Als Seelenheilkundige weiß sie, dass es gesund ist, im Bewusstsein des Hier und Jetzt zu leben und weder über die Vergangenheit zu brüten noch sich mit Sorgen über die ungewisse Zukunft zu plagen – als Kennerin der Geschichte weiß sie aber auch, dass das Wissen um das Vergangene nützlich für die Entscheidungen der Gegenwart ist, um das Kommende nach dem Willen der Götter zu gestalten.

Vor ein paar Tagen, während sie vom Kräutersammeln an einem alten Steinkreis zur Herberge des Traviaklosters zurückgewandert war, war ihre Entscheidung gefallen: Sie würde noch am gleichen Tag nach Garrensand aufbrechen. Kaum hatte sie einen Fuß in den Innenhof gesetzt und bevor sie die Herberge auch nur betreten konnte, war Mutter Ysilda an sie herangetreten.

Die zugegeben sehr zerstreute und beständig plappernde Traviageweihte hatte ihr prompt einen Brief des Boroni Feyda aus Albenhus unter die Nase gehalten, den der Traviatempel vor drei Tagen erhalten hatte. „Er richtet Grüße aus und empfing an seinem Schrein eine geistige Nachricht oder Traum. Er weiß von Eurer Reise und der Ankunft hier und schreibt vor drei Tagen, dass Ihr den Flug der Krähe begleiten sollt und dass Ihr in Golgaris Kreis etwas sehr Wichtiges zur Heilung findet. Sagt das einer weißen Räbin.“, hatte sie den Inhalt des zerknitterten Schnreibens paraphrasiert und verwundert hinzugefügt: „Sehr seltsam, da er so schnell nichts erfahren haben kann und Euch nicht mal kennt.“

Sie folgt eindeutig einem pragmtischeren Weg der Götterverehrung als ich es tue, denkt sich die Mystikerin in ihrer Rückschau, wenn sie die Möglichkeit von Vorahnung und Fügung ’sehr seltsam‘ findet. Und dass sie sich erst an den Brief erinnert, als ich schon den zweiten Tag in der Klosterherberge bin, spricht eindeutig nicht für ihr Gedächtnis.

Im alten Steinkreis, der unzweifelhaft mit ‚Golgaris Kreis‘ gemeint war, hatte sie das heilkräftige und von den Göttern gesegnete Zwölfblatt gefunden und es in den Tempel gebracht, damit eine Kranke damit behandelt werden konnte. Diese Vorhersage Feydas hatte sich also bereits erfüllt. Und die Mahnung, dem ‚Flug der Krähe‘ zu folgen, hatte sie in ihrem Entschluss, nach Garrensand zu gehen, nur bestätigt.
Jetzt ist sie also auf dem Weg und stapft durch den Matsch. Von den Einheimischen hat sie sogar etwas Neues über ihre Kirche gelernt, denn der Heilige Kalmun war ihr bislang unbekannt. Ein Lokalheiliger, der im Kampf gegen die Sekte der Visaristen sein Martyrium gefunden hatte. Einen großen Heiligen, wie Sankta Noiona oder Sankt Uthar, gibt es für diesen Bereich gar nicht., wundert sie sich, es muss aber sicher ganz viele solcher Lokalheiliger und Märtyrer geben, denn es gab ja in beiden Kirchen Abspaltungen und Strömungen, die bekämpft wurden und bei denen Menschen starben. Ich bin gespannt, ob mir mein Weg mehr von ihnen zeigt.

Oder ob ich mich bald zu ihnen geselle und die Schutzpatronin der reisenden Boronis werde, weil ich in der längsten und dunkelsten aller Nächte auf meiner Wanderung erfriere. Der Gedanke ist nicht ganz ohne Sorge, denn Noiona würde schon im Sommer lieber nicht alleine im Wald ohne Zelt und Licht nächtigen wollen, geschweige denn jetzt wo es schneit.
Die längste Nacht, die Wintersonnenwende… den Aberglauben der Dörfler und Holztreidler nimmt ihnen die Geweihte nicht übel. Allermeistens sind es alte Gewohnheiten, hinter denen keine echte Anbetung steht, was soll es schon bringen, den Leuten so etwas zu verbieten.

Da reißt sie der Schrei eines Vogels aus ihren Gedanken. Mit farblos-blaublassen Augen blickt sie dem Krähenschwarm hinterher, der vom Baum in den bleigrauen Himmel stiebt. Die Feder schwebt zu Boden, deutlich zeichnet sie sich vor dem weißen Schnee ab. Noiona hebt sie auf und dreht sie zwischen den Fingern. Für einen Moment schließt sie die Augen: Heiliger Bishdariel, heiliger Golgari, danke für eure Führung.

Vorsichtig steckt sie die Hand mit der Feder in die Manteltasche. Hier muss es eine Köhlerhütte geben. Sie üben einen der unehrbaren Berufe aus, doch Boron kommt in jedes Haus, in die Paläste der Reichen genauso wie in die Hütten der Ärmsten.

Mit neuer Entschlossenheit, den Stock fest in der vor Kälte gefühllosen Hand, blickt die Boroni auf den halb schlammigen, halb verschneiten Pfad vor ihr, schreitet voran durch den Schneematsch und späht, ob sie ein Licht und die Hütte zwischen den Bäumen ausmachen kann.


 

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Antworten auf „Koscher Schnee (2)”.

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