Alles neu macht der Goimond

Die Sonne schien hell auf die Schneedecke, die die Hügelketten bedeckte. Sie blitzte und glitzerte, und das grelle Licht blendete und würde bis zum Mittag alle schneeblind gemacht haben, die ohne Schneebrille unterwegs waren. Vanae grinste schelmisch, als sie sich das lästige Ding vom Kopf zog, atmete die kalte Luft tief ein und drehte das…

Die Sonne schien hell auf die Schneedecke, die die Hügelketten bedeckte. Sie blitzte und glitzerte, und das grelle Licht blendete und würde bis zum Mittag alle schneeblind gemacht haben, die ohne Schneebrille unterwegs waren.
Vanae grinste schelmisch, als sie sich das lästige Ding vom Kopf zog, atmete die kalte Luft tief ein und drehte das Gesicht in die wärmenden Strahlen. Solange sie damit fortging und es auch wieder auf hatte, wenn sie wieder heimkam, würde Rana nicht weiter nachfragen. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich die Brille abnehme, sobald ich außer Sichtweite des Dorfes bin, genauso wie sie weiß, dass ich keine Blindheit riskieren würde, sagte sie sich.
Drei, vier Tage Einsamkeit im Waskirer Hochland standen ihr bevor, drei Tage, nach denen sie sich während den Vorbereitungen schon wochenlang gesehnt hatte. Den Rucksack geschultert, Wanderstab zur Hand, marschierte sie vor sich hin summend los: Gulmond, Klippenzahn, Traschbart und Tarnele, Einbeer und Shurinstrauch und Zwölfblatt dazu nehme…, zur Melodie eines Kinderliedes. Das war die offizielle Aufgabe, mit der die Godi von Skovbjerg sie ausgeschickt hatte, zum Pflanzensammeln.
Sie hat mich so hintersinnig angezwinkert beim Abschied, was sie nicht noch alles weiß…
Es war nicht so, dass die junge Frau sich besonders geschickt in der Natur bewegte, oder den größeren Teil ihres bisherigen Lebens draußen verbracht hatte. Nein, sie war keine Fallenstellerin oder Prospektorin. Aber sie genoss diese Zeit, wenn sie sich frei im Waskirer Hochland bewegen konnte und sie liebte es, sich frei wie ein Vogel zu fühlen, dessen Schwingen ihn überallhin trugen, wohin er es ihnen befahl.

Die Sonne wanderte auf ihrem Pfad über den tiefblauen Himmel, und während sich die Schatten drehten war das Mädchen ebenfalls seinen Pfad entlang gewandert, bis man ihn kaum mehr einen nennen konnte, hatte am Nachmittag einen Höhenkamm bestiegen und erklomm gerade einen höheren Gipfel, von dem sie wusste, dass es dort eine Schutzhütte gab, die von den Jägern gut in Stand gehalten wurde. Beim Laufen war ihr schon so warm geworden, dass sie ihren Anorak geöffnet hatte, und für die Kletterpartie band sie ausnahmsweise ihre langen Haare zurück. Die Spitzen ihrer Ohren schauten jetzt hervor, aber hier in der menschenleeren Wildnis störte sie es nicht.
Menschenleer, doch so voller Leben: Ohne mit den Flügeln zu schlagen schwebte ein Adler als dunkler Punkt zwischen den ausgefransten Wolken, die der aufgefrischte Nordwind vor sich her trieb. Er trug Geräuschfetzen vom Pfeifen eines Murmeltiers an ihr Ohr, das den Raubvogel wohl ebenfalls erspäht hatte. Ein Gelbfuchs war in der einsetzenden Dämmerung quer über den Weg geschnürt, auf der Jagd nach unvorsichtigen Nagern. Von Weitem hatte sie unten im Tal etwas glattes, braunes in den Fluss tauchen sehen, das muss ein Otter gewesen sein.
Raben oder Krähen waren keine zu sehen. Eigentlich ein gutes Zeichen, dennoch hätte sie sich über ihren Anblick gefreut.

Sie saß mit dem Rücken gegen die noch warme Holzwand gelehnt vor der Hütte. Mit geschlossenen Augen, den Kopf entspannt zurückgelegt, genoss sie die letzten Strahlen und bemerkte sie doch nicht richtig, so tief war sie in Gedanken versunken. Die Sonne stand schon tief im Westen und war gerade im Begriff hinter den sanft gewellten Kuppen unterzugehen. Tagsüber hatte sie die Eiszapfen, die armdick vom steinernen Überhang hingen, auf einer Seite zu bizarren Formen schmelzen lassen. Das Licht der ersten Sterne, die sich am rasch verdunkelnden Himmel zeigte, versprach eine klirrend kalte Nacht.
Doch Vanaes Geist weilte in einer anderen Zeit…
Schrecken und Terror waren es gewesen, die die Gefühle an ihren ersten großen Ausflug mit Rana prägten. Schrecken und Terror waren unverhofft über sie gekommen, ohne Vorwarnung und mit aller Macht. Selbst die erfahrene Godi hatte so etwas nicht vorausgesehen. Den Bruchteil eines Augenblicks hatte sie noch die eigene Verwunderung empfunden, als sie die kalte Berührung eines toten Willens, den festen Griff einer erkalteten Hand um ihren lebendigen Geist spürte – dann nur noch die entsetzliche Angst, die ausweglose Panik eines zum Tode Verurteilten, der zum Scharfrichter geführt wird. Doch da war kein vermummter Henker, nur das sich sanft im Wind wiegende Seufzermoos, welches seinen Tod bedeuten sollte. Seit Menschengedenken hatte das Dorf dem verfluchten Moos und seinen Geistern Opfer dargebracht, seit Jahrhunderten waren es aber keine Menschen mehr gewesen. Und nun verlangte das Land wieder ein Menschenopfer. Das Los fiel auf ihn.
In rascher Abfolge blitzten die Bilder seines bisherigen Lebens in ihm – in ihr auf, Szenen aus einem gewöhnlichen Leben, das jedoch von einem Makel überschattet wurde: dem Zeitpunkt seiner Geburt. Warum nur hatten die Götter ihm bestimmt, in den verfluchten Tagen zwischen dem Ende eines Jahres und dem Beginn eines neuen Jahres geboren zu werden? Da fanden sich keine Taten, die ihm diesen schrecklichen Richterspruch eingebracht hatten, aber dennoch sollte er einen grausigen Tod durch Geisterhand sterben, er war das erwählte Opfer in diesem Jahr. In einem unartikulierten Schrei machte sich die rasende Verzweiflung Bahn: Was konnte er dafür? Doch umsonst. Harte Hände stießen ihn voran, niemand sprach seinen Namen oder auch nur ein Wort. Er biss sich die Lippen blutig, um nicht erneut loszuschreien. Zu spät, er wusste es. Zu spät. Niemand konnte ihnen entkommen, den Geistern derer, die diesen Weg vor ihm gehen mussten.
Und sie kamen…

Sie schüttelte sich körperlich, wie um den Gedanken dadurch abzuschütteln, und rappelte sich auf. Genug sinniert über Vergangenes, schalt sie sich, sein Geist hat schon lange Ruhe gefunden. An einem so friedlichen Abend über solch düsteren Erinnerungen zu brüten kann auf keinen Fall gut sein. Das hab ich jetzt davon, jetzt muss ich im Halbdunkel noch Brennholz suchen, wenn ich nicht an den eingelagerten Rest in der Hütte gehen will.

Das Wetter hielt die nächsten Tage, ganz wie Oma Haedwyg das zeitige Winterende vorhergesagt hatte, als die drei Schwäne schon Anfang Goimond über dem Weiher kreisten; jede Nacht war weniger bitterkalt als die vorhergehende. Die Taschen vollbepackt, konnte sie sich nach zweieinhalb Tagen einer reichen Ausbeute rühmen: Nicht nur die gesuchten Heilkräuter, Wirselkraut und Tarnele, Traschbart, Geißblatt und sogar Olginwurz hatte sie ernten können, sie hatte darüber hinaus gleich zwei Alraunen ausfindig gemacht. Rana würde sich freuen.
Einen kleinen Stich der Enttäuschung konnte sie dennoch nicht leugnen. Auch wenn es zu erwarten gewesen war. Schließlich war es seit Jahren nicht anders, sie sollte es also mittlerweile gewohnt sein.
Wenn das Volk nicht gesehen werden wollte, dann wurde es das auch nicht. Darin waren sie mindestens ebenso gut wie die Biestinger im Wald und die Feen bei Vollmond. Nun ja, sie waren wesentlich besser als die letzteren. Und was sollten die auch von ihr wollen? Sie wusste ja schon, dass sie nichts mit ihr zu tun haben wollten. Und langlebig wie die Alten waren, würden sie sich wohl kaum umentscheiden.
Dann mache ich mich mal besser auf den Rückweg. Sie rang sich ein Lächeln ab und belud sich mit den gesammelten Pflanzen. Nicht dass die noch welk werden. Daheim würden sie sich schön bedanken… Als sie einen Blick nach dem Stand der Sonne warf, huschte gerade ein schwarzer Schatten vor der Scheibe vorbei. Ein Rabe. Vanaes Lächeln wurde ehrlich. Den Wanderstab zur Hand marschierte sie los und summte zur Melodie eines Kinderliedes vor sich hin: Gulmond, Klippenzahn, Traschbart und Tarnele…
Wie kindisch von ihr zu glauben, dass irgendwann eine Elfe mit goldenen Augen vorbeispaziert und ihr das Flötenspielen zeigt. Sie schnaubte ein Lachen und schüttelte den Kopf. Ein absurder Gedanke.

Um die letzte Biegung noch und die altvertrauten Dächer der Langhäuser, die die mit Schnitzereien bewehrte Palisade überragten, würden ihr entgegenblicken. Der Wind trug ihr schon die vertrauten Geräusche zu: Schmiedehämmern, Pferdewiehern, ein Esel schrie, ein Mann schimpfte, ein Karren rumpelte an ihr vorbei. Die Großmutter kam gerade zur Tür gehumpelt und grinste ihr zahnloses Grinsen zum Willkommen, natürlich wusste sie um den genauen Zeitpunkt ihrer Rückkehr. Sie war wieder daheim.

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